»… es sei denn, was außen ist.«
Einzelausstellung von Cholud Kassem im Kunstverein Schwetzingen – Palais Hirsch. November 2013.

Ästhetische Ängste

Begleittext  von Dr. Dietmar Schuth (Künstlerischer Leiter des Kunstvereins Schwetzingen und Worms) zum Katalog der Ausstellung.

Als Adam und Eva im Paradies lebten, waren sie unschuldig und nackt. Sie brauchten keine Kleider, weil wohl ein ewiger Frühling herrschte. Ihre hübsch braun gebrannte Haut reichte als natürlicher Schutz vor Sonne, Regen und der nächtlichen Kühle vollständig aus. Die vier Paradiesflüsse schenkten ihnen das lebensnotwendige Wasser, und die Bäume trugen stets reife Früchte, die sie ernähren. Für alles war gesorgt wie in einem Fünfsterneresort all inclusive.

Doch dieser müßige und aus heutiger Sicht vielleicht auch etwas langweilige Traumurlaub der frühen Menschheit währte nur kurz. Wir alle kennen die so folgenreiche Geschichte. Seit dem Sündenfall mussten die Menschen sich kleiden, um sich vor einer nunmehr unwirtlichen Natur zu schützen. Überall lauerten Gefahren, woraus die ersten Ängste geboren wurden. Kummer und Sorgen entstanden aus Angst um die eigene Existenz, weil man sich nun auch um alle Nahrung kümmern musste. Man brauchte Waffen um zu Jagen und Werkzeuge um den Boden zu bestellen. Er und sie mussten und durften nun spinnen, weben, schneidern, töpfern, malen, schnitzen oder schmieden. So oder so ähnlich hat die menschliche Kultur wohl ihren Anfang genommen.

Vielleicht liegt die irakische Heimat der Künstlerin Cholud Kassem nicht weit von jenem mythischen Ort zwischen Euphrat und Tigris, den unsere biblischen Vorfahren als Paradies phantasieren. Ihre archaisch anmutende Bildwelt kann den Betrachter auf einen ersten Blick durchaus in eine orientalische Welt entführen. Ein formalästhetischer Vergleich mit archäologischen Funden aus Mesopotamien bietet sich an wie auch eine gewisse Verwandtschaft zu der noch heute lebendigen Kunst der Tuareg in der Sahara. Man sieht in den Bildern der Cholud Kassem rätselhafte Kleider, Helme und Schmuckketten wie auch Waffen, Werkzeuge und Geräte, die alle schon vor vielen Tausend Jahren erschaffen worden sein könnten. Vielleicht haben schon Adam und Eva nach ihrer Vertreibung ähnliche Dinge getragen.

Cholud Kassem lebt seit ihrer frühen Kindheit in Deutschland, wurde christlich erzogen und ist nur indirekt an der Archäologie oder Ethnologie des Orients interessiert. Sie lebt wie wir alle im 3. Jahrtausend nach und nicht vor Christi Geburt. Und trotzdem evozieren ihre Acrylbilder eine versunkene Welt. Diese mag freilich nicht irgendwo und irgendwann von Wüstensand begraben sein. Ihre Welt erscheint in uns selbst verborgen, wie in Traumbildern tritt sie hervor und erinnert uns an urtümliche Prägungen, die ein kollektives Unterbewusstsein vor Jahrtausenden erfahren haben mag. Die Anthropologie kennt die sehr glaubwürdige Theorie, dass sich in der individuellen Ontogenese eines Menschen die stammesgeschichtliche Phylogenese wiederholt. Wenn die Künstlerin also eine Waffe oder ein Kleid kreiert, erscheinen diese Objekte nicht nur als individuelle Kreation, sondern mehr als Urbilder einer Waffe, eines Kleides, wie sie bereits unsere Vorfahren als Muster angelegt haben könnten.

Um das besser zu verstehen, ist es sinnvoll, die Genese dieser archetypischen Bildwelt der Cholud Kassem in den letzten Jahren kurz zu skizzieren. Am Anfang eines jeden Bildes steht für sie seit vielen Jahren zunächst ein Papier, auf dem sie ihre Farben in Lasuren aufträgt. Ohne vorgefasste Bildideen bilden sich während des Malens erste Formideen heraus, die jedoch ständig verändert und oft wieder weggekratzt werden. Dabei muss das empfindliche Papier so manches erleiden, wird zu einer schrundigen Haut und stark vernarbten Oberfläche, die einen komplizierten Formfindungsprozess wiederspiegelt.

Die Form entsteht also immer in einem meditativen Arbeitsprozess, der sich intuitiv und fast instinktiv einem unbewussten Formenschatz öffnet. Anfangs formierte sich die Farbe zu geometrischen Motiven, die man als abstrakte Symbole oder magische Zeichen mit kraftvollen Farb- und Formkontrasten erkennen konnte. Doch allmählich entwickelte die Künstlerin eine immer konkretere Bildsprache. Ihre Formen wurden figürlicher und ließen sich gegenständlich deuten. So zeigt ihre älteste Serie mit dem Titel „Schutzlinge“ jenen Übergang vom geometrischen Symbol zum handfesten Objekt. Dabei dominieren apotropäisch anmutende Formen, die in ihrer Funktion zwar rätselhaft bleiben und dennoch an reale Schutzhelme oder Schutzschilde erinnern. Und das ist sehr bemerkenswert: Die kreative Versenkung der Künstlerin in eine unbewusste Welt trifft dort vor allem auf verborgene Ängste und Gefahren, die sie ästhetisch zu bannen versucht. Und diese elementaren Ängste sind den Menschen seit Jahrtausenden einverleibt und mögen – um im anfänglichen Bilde zu bleiben – schon Eva berührt haben, als sie merkte, dass die Welt da draußen eine gefahrvolle ist.

Adam hingegen hätte sich womöglich mehr für andere Serien der Cholud Kassem interessiert, wie die „Pfeile“ und die „Fühler und Geweihe“. Auch hier deuten sich archaische Ängste an, doch verlässt die Künstlerin ihre defensive Einstellung und erfindet offensive Artefakte, die sich bei den „Pfeilen“ als primitive, doch sehr wirksame Waffen offenbaren. Andere Pfeile erinnern an erste Metallobjekte, an Kämme, Bürsten oder frühe landwirtschaftliche Geräte, mit denen die Frauen zumeist Textilien herstellten. In der Serie „Fühler und Geweihe“ finden sich ebenfalls scharfe Waffen, aber auch sensiblere „Geräte“, die einen etwas intelligenteren Umgang des Menschen mit seiner Umwelt offenbaren.

Seit 2004 kombiniert Cholud Kassem ihre fortifikatorischen Motive mit ovoiden Formen, die man als Gesichter ansprechen kann. Sie heißen „Wudus“ und kokettieren mit dem animistischen Aberglauben der Afrikaner (in der Karibik). Diesen emblematisch stilisierten Köpfen fehlen die Nasen und Ohren. Sie zeigen entweder nur eine Augen- oder nur eine Mundpartie. Hinzu kommt jeweils eine Art Kopfschmuck. So erscheinen die Wudus wie Masken, die erneut an prähistorische Vorbilder erinnern. Der Überlebenskampf des Menschen scheint hier neue Waffen erfunden zu haben, die nicht mehr rein physikalisch funktionieren, sondern eine metaphysische Kraft herauf beschwören. Mit dieser Magie lässt sich kämpfen, doch nicht alle Masken der Cholud Kassem sind böse. Manche wirken ausgesprochen freundlich, lustig gar und zeigen ganz andere Strategien an, Ängste zu besiegen.

In den neueren Serien seit etwa 2007 entwickelt Cholud Kassem nochmal neue Schutzstrategien und springt auch in der Evolution einen großen Schritt voran. Die prähistorisch anmutende Archaik scheint überwunden, und die Assoziationen des Betrachters finden sich unversehens in einem abend- wie morgenländischen Mittelalter wieder. Ein Bild aus der Serie „Dem Himmel sei Dank“ zeigt zum Beispiel eine schöne blaue Kreisformation, die man als eine Türkiskette deuten könnte mit ungeschliffenen, fast rohen Steinen, wie sie in Gräbern aus dem 1. Jahrtausend nach Christus üblich waren. Ein anderes, rotes Schmuckstück, eine Art Diadem, aus dieser Serie erinnert an den Granatschmuck der Völkerwanderungszeit. Doch dieser Schmuck ist mehr als nur Zierde, der Titel deutet an, dass diese Ketten womöglich eine kultische Funktion besessen haben könnten. Insbesondere die Edelsteine galten den Menschen einst als magische Objekte mit innerem Feuer, das sie zu spirituellen Symbolen machte.

In der neusten Serie (seit 2010) mit dem kryptischen Titel „ … es sei denn, was außen ist“ entwickelt Cholud Kassem diesen spirituellen Aspekt weiter und wendet sich sogar religiösen Strategien zu, die dem physischen wie psychischen Schutzbedürfnis des Menschen dienen. Es sind textile Schutzkleider und Mäntel, die an liturgische Kirchengewänder wie auch an das gotische Sujet der Schutzmantelmadonna denken lassen. Und wiederum ist die Künstlerin um einige Jahrhunderte vorausgesprungen und erfindet Motive, die auch im 19. oder 20. Jahrhundert nach Christus angesiedelt sein könnten. So tragen einige ihrer Kleider einen ganz biedermeierlichen Blumenschmuck, erinnern an Volkstrachten oder katholische Taufkleidchen. Aber auch islamische Traditionen wie die der Burka lassen sich assoziieren. Die Ontogenese hat die Phylogenese eingeholt, die Bildwelt der Cholud Kassem vollendet sich in der Biografie der Künstlerin, die endlich ganz bei sich angekommen scheint.

© Dr. Dietmar Schuth, Kunstverein Schwetzingen

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Muster und Symbole als Requisiten der Seele. Morgenweb (2013)