Schutzlinge

Einzelausstellung von Cholud Kassem im Heidelberger Kunstverein. 2000

Zehn oder zwölf mittelgroße Arbeiten auf –  besser: aus – Papier, ein aufragender Block im Tageslicht, ungerahmt. Wappenschilde, Schädel, Hörner, Mützen: lakonische Bildzeichen, emblematisch verkürzt und verdichtet, ernst, heraldisch, demonstrativ, gleichwohl nicht ohne Witz. Allerlei Assoziationen sind möglich, doch kreisen sie allesamt um Aspekte der menschlichen Figur, haben zu tun mit Körper und Kopf, mit Gliedmaßen, Gerät und Kleidung, Schutz und Schirm, Helm und Rüstung. Natürlich kann man auch versuchen, sie als das zu lesen, was sie tatsächlich sind: Ebenso knappe, minimalistisch konzentrierte wie in den Nuancen höchst differenzierte Malerei, Linie und Farbe, Form auf – besser: in – der Fläche.

Blickt man zurück auf die Anfänge von Cholud Kassems künstlerischer Tätigkeit, so scheint das Abstrakte – besser: Konkrete – zu dominieren. Doch bereits im erstaunlich reifen Frühwerk treten Motive auf, die mehrere Lesarten nahelegen, die mit Assoziationen spielen und offen sind für Bezüge zur Welt, zu Erfahrungen und Erinnerungen, die ihren Ursprung außerhalb der hermetischen Bild-Realität haben. So finden sich etwa Formen, die ganz „gegenständlich“ gelesen werden können, freilich mehrdeutig, etwa als positive oder negative Figur, als plastisches oder flächiges Element, als Tor oder Phallus, vielleicht auch als verschleierte Frauengestalt aus der orientalischen Heimat der Künstlerin.

Cholud Kassem hat bereits in frühester Kindheit den Irak verlassen – dass es da Erinnerungen geben könnte, die in ihren Bildern reflektiert werden, verneint sie entschieden. In Bagdad geboren, kam sie mit zweieinhalb Jahren nach Deutschland, wuchs in Mannheim und Viernheim auf, ging dort zur Schule, ließ sich als Zahnarzthelferin ausbilden. Ihr Talent wurde – von ihr selbst und von ihrem Lehrer Manfred Kästner – an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg entdeckt, doch es hat dann noch eine ganze Weile gedauert, bis ihr klar wurde, daß sie nicht zur Kunsterzieherin oder Museumspädagogin geboren wurde, sondern dazu, den Sprung ins kalte Wasser des Künstlerberufs zu wagen.

Im dämmrigen Studio des Kunstvereins ist, neben den erwähnten größeren Bildern im hohen Lichterker, eine 64-teilige Reihung kleinformatiger, holzgerahmter Papierarbeiten zu sehen, eine Serie unverkennbar miteinander verwandter, dennoch jeweils sehr verschiedener, je individuell konzipierter und komponierter Bilder, die ausgewählt wurden aus einer weit größeren, heute über hundert Mitglieder zählenden Familie. Die Zusammengehörigkeit all dieser Arbeiten ist unverkennbar, die Einheitlichkeit der Sprache beeindruckend. Alle diese Bilder haben etwas Zeichenhaftes, Archetypisches, in der Reihung jedoch, im Nebeneinander, offenbaren sie eine Vielfalt, die nicht die einer mehr oder weniger intelligenten und phantasievollen Variation über ein und dasselbe Thema ist, sondern ganz im Gegenteil ein ungemein breites Spektrum gänzlich unterschiedlicher Bildaussagen eröffnet.

Doch diese Spannweite erschöpft sich nicht im gleichsam Horizontalen, im Erfindungsreichtum immer neuer und anderer Zeichen, sondern deren imponierende Prägnanz offenbart sich bei genauerer Betrachtung als Resultat aufwendiger und im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtiger „vertikaler“ Prozesse, als Ergebnis von Arbeitsabläufen, in denen materiale Aspekte ebenso zum Tragen kommen wie zeitliche. Das immer neue Auftragen und Wegnehmen läßt sich mit naturhaften Vorgängen vergleichen, die an Sedimentation und Erosion erinnern, sich aber weit über das Geologische hinaus auch mit persönlicher Erfahrung verbinden, mit Prozessen, bei denen revidiert und korrigiert wird, wobei aber die Spuren solchen Agierens mit all seinen Verletzungen und Verirrungen nicht eliminiert oder kaschiert, sondern bewußt als „Geschichte“ sichtbar belassen werden.

Es geht um beides, um die Geschichte – den Prozeß, das Ringen, das Scheitern, um die Herausforderung, dem Mißlingen schließlich dennoch und jetzt erst recht etwas Positives abzugewinnen – und damit dann also doch auch und sogar ganz entscheidend um das Resultat, um die definitive Vollendung einer Arbeit, die sich schließlich einfügt in die mit enzyklopädischer Akribie geschaffene Reihe aller anderen, die vollzählig und gleichsam kritisch prüfend versammelt sind, um den Neuankömmling in ihrer Mitte willkommen zu heißen.

Ganz konkret: Sie sind alle dabei, aufgereiht und an die Wand gepinnt, wenn es gilt, zu überprüfen, ob aus den Teilen tatsächlich ein Ganzes wird, ob das Neue so weit gereift ist, daß es seinen Vorgängern gerecht wird in diesem ebenso autobiographisch-metaphorischen wie exemplarischen Kosmos humaner Bilder und Zeichen.

Manchmal, sagt Cholud Kassem, versucht sie etwas ganz anderes zu machen. Aber dann entsteht doch wieder ein passendes Glied in der Kette der Arbeiten, ein weiteres Kind reiht sich ein in den Kreis der Bilderfamilie, und es gelingt ein nächster, wieder aufregend neuer Schritt auf dem eingeschlagenen Weg.*

Hans Gercke. (Original abgedruckt in: gegenwärts, 8/00).

*Dieser Text ist die stark gekürzte und veränderte Fassung eines Textes aus dem Katalog zur Ausstellung im Heidelberger Kunstverein 2000.

Weiterer Artikel:
Vielschichtig und anrührend. Arbeiten von Cholud Kassem im Kunstverein. Artikel Heidelberger Stadtblatt. Ausgabe Nr.51. (12/2000)