Von Tarnhelmen und Superkarmas, so lautet der neugierig machende, auch rätselhaft klingende Titel der Ausstellung. Ist es der Beginn einer phantastischen Erzählung …, oder der Anfang eines Märchens? Für uns heute Abend ist es der Einstieg in die emblematische Bilderwelt der Cholud Kassem. Die Präsentation in den wunderbaren Räumen der Galerie Vincke-Liepmann, vermittelt einen umfassenden Einblick in das Werk der Heidelberger Künstlerin.

Cholud Kassem prräsentiert Arbeiten aus sieben Werkgruppen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und ergänzt diese um ganz aktuelle, hier erstmals gezeigte Werke. Beim Betreten der Räume nehmen wir Masken, Kopfbedeckungen, Helme, Textilien, Amulette, Fühler und Geweihe wahr. Außergewöhnliche Bildfindungen, die uns als piktogrammhafte Formen auf wei§em Grund erscheinen. Daneben die phantasievollen Physiognomien, die uns hier in diesem Raum beobachten; die in Paaren zum Dialog auffordernden Superkarmas:
Eine Serie von ca. 20 Arbeiten auf farbigem Grund. Gemalt in Acrylfarbe und Wachsmalkreide auf Hartfaserplatte. Wir blicken auf symmetrisch angelegte Gesichtszüge und in angriffslustige Augenpaare, die offensiv unseren Blick einfordern und doch mehr verbergen als preisgeben. Nicht ohne ein Augenzwinkern modelliert Cholud Kassem ihre Formensprache an diesen geheimnisvollen Masken, die in ihrer Offensivität und Farbgestaltung eine Sonderstellung im Werk der Künstlerin einnehmen. Die früheren, zarten Papierarbeiten hinter Glas, die in dem angrenzenden Raum gegenüber gezeigt werden, lassen ähnliche Form- und Kompositionsprinzipien erkennen. Diesen maskenhaft schmalen Physiognomien der sogennanten Wudus – auch dies ein Kunstwort – fehlt jedoch jeweils ein Sinn; so offenbaren sie entweder nur Augen- oder Mundpartie. Gekrönt von einem aufcollagierten Kopfschmuck -Hörnern, Fühlern, und geometrischen Symbolen gleich, wird man an afrikanische Fruchtbarkeitsmasken erinnert. Cholud Kassems Werk wurde nicht selten mit der außereuropäischen Kunst Afrikas oder Ozeaniens verglichen. Doch vielmehr als durch kulturelle und künstlerische Vorbilder, mit denen sie durchaus kokettiert, ist sie geprägt durch Rituale und den eigenen kulturunabhängigen Glauben an Symbole und Phänomene.

Choluds Kassems zentrales Thema sind Schutz- und Abwehrstrategien im Umgang mit ureigenen Ängsten. Ihr Atelierraum, der bereichert ist mit Gegenständen, die allesamt von besonderer Bedeutung und Inspiration für die Künstlerin sind, gleicht einem aufgeladenen Schutzraum. Darin erschafft sie in rituellen Malprozessen ihre Bilder, die über einen langen Zeitraum entstehen. Häufig arbeitet sie zeitgleich an mehreren Werken und immer seriell. So wichtig wie das fertige Kunstwerk ist dabei der intuitiv – meditative Prozess seiner Entstehung.
Cholud Kassems Werk ist ein aus sich selbst heraus entstehender Symbolkosmos. Den darin wiederkehrenden Motiven und Gegenstände werden Schutzfunktionen zugeschrieben, die nicht erst durch die jeweiligen Titel lesbar werden. Die zu betrachtenden Masken, Tarnhelme, GewŠnder und Amulette sind als Unheil abwehrende Gegenstände, sogenannte Apotropßen zu deuten, die das Böse bannen.

„Es sei denn, was außen ist“ so der poetische Titel (*1) einer Serie aus den Jahren 2012-2014. Hierzu gehören die mit Ornamentwerk reich geschmückten Kleider in diesem und dem angrenzenden Raum. Auffallend ist die Verwendung von Silber- und Goldfarbe, die die Festlichkeit der Umhänge untermalt. In dieser Serie wendet sich Cholud Kassem westlichen Schutzstrategien zu und referiert auf liturgische Kirchengewänder oder die Umhänge gotischer Schutzmantelmadonnen. Religion und Glaube sind die wohl universellsten Schutzstrategien des Menschen.
Eine Haube mit gepardenartigem Muster, eine Hut-oder Mützenform in tiefem Blau, gekrönt von einem dunklem Auge auf hellblauem Grund. Eine gefasste Nazar Perle oder auch Fatimas Auge genannt, die in orientalischen Ländern universell schützend als wirksamste Abwehrma§nahme gegen den bösen Blick gilt. Von ihr empfangen wurden sie bereits im Eingangsbereich.

Diesen Bildern ist der Prozess ihrer Entstehung deutlich abzulesen. So sind materielle Verdichtungen und übereinander gelegten Farbschichten zu sehen. Der für Cholud Kassems Arbeiten so charakteristische weiße Grund, entsteht durch ein Umschlie§en der Form nach dem Auftragen, Abnehmen und Verwischen der Farbe. Die über das zentrale Motiv hinausreichenden Pinselspuren des Malprozesses, werden mit einer wei§en Schicht überzogen. Fast, als würde man einen wertvollen Gegenstand nach Gebrauch in eine pastose Flüssigkeit sinken lassen, darin einbetten.
Immer wieder neu modelliert Cholud Kassem ihren kennzeichnenden archaischen Formenkanon, den sie zu ikonischen Symbolträgern gestaltet und ineinander wachsen lässt. Formale Ähnlichkeiten zwischen den Werkgruppen sind offensichtlich und gewollt. Die Werkserien sind Versatzstücke einer komponierten, semiotischen Bildwelt. Emblematische Kompositionen, die durch ihre Prägnanz bestechen und viel Raum für eigene Assoziationen zu persšnlichen Symbolbildern aufmachen, die unsere jeweilige Seherfahrung und kulturelle Prägung in uns angelegt haben.
Eindringlich ist der Begriff, der mir als erstes in den Sinn kam. Eindringlich und besonders. In all den Jahren unserer Bekanntschaft verbinde ich mit Cholud ein wahres Signalbild, das mir stark in Erinnerung ist: das Plakatmotiv der Studio-Ausstellung im Heidelberger Kunstverein- ein Acrylbild aus der Serie der Schutzlinge, ein nach unten spitz zulaufendes rotes Schild auf weißem Grund mit gelbgoldenen Spitzen am oberen Bildrand.
Vermutlich geht es Ihnen genauso, Cholud Kassems Bilder vergisst man nicht. Ihr charakteristisches Werk ist in seiner Prägnanz, in seiner Formensprache eigenständig und unverwechselbar. Ihre Werke üben eine starke Anziehungskraft aus, sind Objekte von einer geheimnisvollen Aura.

© Carolin Ellwanger, 2017
(*1) Zitat aus Sure 24 des Korans