Pfeile

Einzelausstellung von Cholud Kassem in der Galerie Veronica Kautsch in Michelstadt. 2003

Dr. Roland Held
anlässlich der Ausstellungseröffnung Pfeile von Cholud Kassem. 02. November 2003. Galerie Veronica Kautsch in Michelstadt.

Sich durch diese Ausstellung zu bewegen hat etwas von einem Gang durch eine museale oder wissenschaftliche Sammlung, deren genauere Natur, meine sehr verehrten Damen und Herren, es erst noch zu definieren gilt. Dicht gereiht, ohne je aus der Vertikalausrichtung auszubrechen, sind die „Pfeile“, unterschiedlich lang und doch an einer gemeinsamen mittleren Höhe orientiert. Überhaupt eine treffliche Veranschaulichung des Prinzips von der Einheit in der Vielfalt und der Vielfalt in der Einheit: denn im einzelnen ähneln sie weniger Pfeilen als Gabeln, Löffeln, Propellern, Kerzenleuchtern, Lotleinen, Pendeln, Kämmen, Zigarren, Kompaßnadeln, kleinen Transmissionsanlagen.

Man denkt beim Anblick der überwiegend filigranen, stets zweiendigen – sozusagen janusköpfigen – Gebilde weniger an Kunst- als an Gebrauchsobjekte. „Artefakte“ heißt das schöne Wort, das in den prähistorischen und völkerkundlichen Trakten der Museen immer dann auftaucht, wenn die Funktion eines Gegenstands ungeklärt ist. „Artefakt“, mit Kunst (im Sinne von Kunstfertigkeit) vom Menschen gemacht. Was die rahmenlose Präsentation hinter einer Glasscheibe, objekt-trägerhaft oder im Sinne einer umlaufenden Wandvitrine, noch unterstreicht. Ha!, wird jetzt Herr Schlaumeier ausrufen, es handelt sich doch gar nicht um Objekte, sondern bloß um Abbildungen von solchen. Aber wenn man die Machart der Pfeile näher betrachtet, angeschwollen von Schichten Bemalung ebenso wie beklebten Papiers, dann wird man da nicht mehr so sicher sein.
Auch wenn die größeren Formate die Thematik erweitern, löst das das Rätsel nicht. Die Rückversicherung des Rahmens wird uns nur ausnahmsweise zuteil. Wie Fahnen hängen die Kartons an Klammern, frei, so dass sich ihre Machart studieren läßt: das knittrige, angegilbte Transparentpapier, das dem Träger aufsitzt, wieder oft mehrfach übereinander; die Acrylfarbe, hier in wässerigen Flächen ausgebreitet, dort in pastosen Flächen, welche partiell wieder ausgewaschen oder ausgekratzt sind, um verlorene Schichten neu freizulegen. Alles von ungemein stofflicher Anmutung. Anderswo sieht man, weil Überdecktes durchschimmert, dass die bildbeherrschenden Formen, auffällig zentral und wie in Schwebe positioniert, irgendwann einmal weiter ausgreifend waren. Es scheint, als bewahre jedes Bild so seine Entstehungsphasen und Vorversionen.

Was aber hat es nun auf sich mit dem, was ins Auge springt? In ihrer achsensymmetrischen Organisation transportieren besagte Formen auch ohne direkte Wiedererkennbarkeit etwas Vertrautes – denn achsensymmetrisch organisiert sind wir selbst, ist der Bau unseres eigenen Körpers. Und schon gerät im Kopf des Betrachters, ob er will oder nicht, die Assoziationslokomotive ins Rollen. Ihr angehängt sind Waggons, deren Namen in immer schnellerer Folge vorübersausen: ein Gewand, eine Maske, ein Harnisch, ein Schild, eine Votivgabe, eine Krone, ein Kopfschmuck. Oder, noch spezifischer: ein aztekischer Federmantel, eine afrikanische Hörnermaske, ein japanischer Samurai-Panzer, eine mittelalterliche Bischofsmitra.
Ehe wir uns versehen, ist Herr Schlaumeier schon auf den fahrenden Zug aufgesprungen und fordert uns auf, desgleichen zu tun, mit dem Ruf: Hab ich mir gleich gedacht: Ethno-Kunst! Sieht nicht die Künstlerin selber aus, als wäre sie angereist aus einem fernen Land? Da wird sie nicht nur ihr eigenes Erbe, sondern das der restlichen Weltkulturen gleich mit ins Gepäck genommen haben…. Jetzt aber, meine Damen und Herren, wird es höchste Zeit, daß wir die Eisenbahnampel auf Rot stellen. Zwar stimmt es, daß Cholud Kassem 1956 im Irak geboren wurde, genauer gesagt, in Bagdad. Nach Deutschland gekommen aber ist sie schon im Alter von zweieinhalb, zu jung, als dass sie ausgefeilte bildhafte Eindrücke von dort mitgebracht haben könnte. Zumal sie biographisch bedingt eine sehr deutsche Sozialisation erfuhr und jahrzehntelang von dem irakischen Teil ihrer Identität nichts wissen wollte. Im Gespräch, das ich mit ihr während des Ausstellungsaufbaus hatte, gewann ich den Eindruck, dass sie sich diesem Aspekt ihrer selbst nur sehr behutsam, ja zögerlich zuwendet und mit gewisser Dringlichkeit erst in jüngster Zeit, durcheinandergerüttelt, wie wir alle, von den politischen Ereignissen der letzten Monate.

Kein Bekenntnis zu irgendwelchen Exotismen also von Cholud Kassem. Stattdessen spricht sie von ihren Bildern als von „Malmeditationen“, was natürlich anspielt auf ihre langwierige, von Schichtenauftragen und -abtragen charakterisierte Entstehung, was die Künstlerin damit ausgleicht, dass sie gewöhnlich an mehreren Bildern parallel arbeitet. Aber ich glaube, in dem Begriff „Meditationen“ steckt auch etwas von der inneren Haltung ebenso wie von der Erscheinungsweise der Ergebnisse. Denn gleichen diese in ihrer geometrisch angelegten Flächigkeit nicht reduzierten, in sich ruhenden Wappen mehr als Waffen oder sonstigen Realobjekten? Und haben die Pfeile nicht weniger mit Geschossen zu tun als mit der zweiten Bedeutung des Worts Pfeil: nämlich Hinführung, Hinweis, Zeichen? Beiden heute vorgeführten Werkserien kommt man näher, wenn man sie als Systeme von Zeichen betrachtet, entwickelt womöglich aus ein paar wenigen Grundtypen und die dann aufgefächert zu vielen Variationen. Es bedarf angesichts der Präsenz dieser Bilder kaum der Klarstellung, dass solche künstlerische Vorgehensweise nicht zwangsläufig trocken-abstrakt ist. Cholud Kassem betont, dass sie bei ihren Formfindungen für Außeneindrücke durchaus offen ist. Doch bis jetzt hat sie noch jeden Erstentwurf mehrfach übermalt und abgeändert. Gehen wir getrost davon aus, dass es sich um einen Prozess von Verknappung und Verdichtung auf das Wesentliche einer Form handelt. Wesentlich ist sie dann, wenn sie wirkkräftig ist – Bildzeichen wäre demnach identisch mit Kräfte-Konstellation (denn was sind Linien und Farben, Kontrast- und Flächenverhältnisse anders als auf uns wirkende Kräfte?), eine Kräfte-Konstellation, gleichermaßen kräftigend für den Produzenten, Cholud Kassem, wie für den Rezipienten, uns.

Man kann die Formfindungen dieser Bilder archaisch nennen. Nicht jedoch in dem Sinne, dass sie tatsächlich zeitlich und räumlich entlegenen Völkern nachempfunden wären; sie scheinen mir vielmehr ursprünglich, elementar, echt, aus beträchtlicher seelischer Tiefe zutagegefördert, so wie auch die Zeichen eines Paul Klee, eines Willi Baumeister, eines Julius Bissier von archaischer Qualität waren. Ob in diesen seelischen Tiefen darüber hinaus Erinnerungen Platz haben an im Laufe eines halben Lebens beiläufig registrierte Kostüme und anderes Kulturgut – es ist zumindest nicht ausgeschlossen. Entscheidend ist die Umsetzung aller Mosaiksteine zu einem Gesamtbild, das als Form für sich selbst steht und ohne weiteren Kommentar fasziniert. Entscheidend ist, dass das Spiel zwischen dem Formfundus der Künstlerin und dem Formfundus ihres Publikums ungehindert hin und her flutet. Man werte es als Bestätigung, zu hören, dass Kleidung in der Menschheitsgeschichte nie nur leiblicher Schutz und Schamverhüllung war, sondern auch Status und Funktion des Trägers unterstrich. Kleidung war und ist Zeichen. Ähnlich steht es mit bestimmten Gerätschaften – man denke an das Zepter, das die Person des Herrschers vertritt. Kein Wunder, wenn also unter Cholud Kassems Händen Zeichen, man könnte auch sagen: „Buchstaben einer materiellen Schrift“ (Dietmar Kamper), ungewollt in die Nähe von Kleidung, in die Nähe von Pfeilen rücken. Eine Ebene mehr in unserer geistigen und sinnlichen Auseinandersetzung mit diesen Bildinhalten, die vielschichtig sind wie ihr zugehöriger Bildkörper. Wir bedürfen solcher rundum offenen, reichen Zeichen in unserer Epoche, in unserer technischen Zivilisation, wo wir in Berufs-, Verkehrs- und Freizeitzusammenhängen rettungslos umzingelt sind von Zeichen, die verarmt und eindimensional geworden sind, verkommen zum bloßen Signal, zum Signet, das nur noch eine Ja- oder Nein-Reaktion zuläßt anstatt einer differenzierten Antwort. Vielleicht sind Cholud Kassems Formfindungen ja doch Waffen und Harnische, nur geistiger Art, um uns gegen just solch phantasietötende Umstände zur Wehr zu setzen…

©   Dr.Roland Held, Darmstadt 2003